Aufgedeckte Fehlverhalten von Arbeitnehmern– Risiken außerordentlicher Kündigungen bei Internal Investigation – Organisations­­verschulden

BAG v. 5.5.22 – 2 AZR 483/22

Wer kennt das nicht, es besteht ein Anfangsverdacht gegenüber einem Mitarbeiter, welcher im Rahmen einer Compliance-Untersuchung durch eine Internal Investigation aufgeklärt werden soll, später erhärtet sich die Verdachtsmomente und es geht erhebliche Zeit ins Land bis die fristlose Kündigung nun endlich meist noch nach erforderlicher Anhörung des Betriebsrates ausgesprochen werden kann. Dann erleidet ein Arbeitgeber häufig vor den Arbeitsgerichten Schiffbruch, weil diese der Auffassung sind, dass die fristlose Kündigung nicht innerhalb der Zweiwochenfrist gemäß § 626 Abs. 2 BGB ausgesprochen worden ist. Alleine deshalb scheitert dann bereits die fristlose Kündigung trotz des Aufwandes einer Internal Investigation. Schade oder?

Worum ging es in der Entscheidung des BAG: Ein Mitarbeiter war in den Verdacht des Verstoßes gegen Geheimhaltungspflichten geraten. Daraufhin beauftragte die Arbeitgeberin eine Rechtsanwaltskanzlei mit der Internal Investigation im Oktober 2018 zur Aufklärung des Sachverhalts. Ende Juni 2019 entschied das Compliance-Team, die Internal Investigation zu unterbrechen und – anders als ursprünglich geplant – die bisherigen Untersuchungsergebnisse in einem Zwischenbericht für die Geschäftsführung aufzubereiten, um über etwaige weitere, auch arbeitsrechtliche Maßnahmen zu entscheiden. Die beauftragte Rechtsanwaltskanzlei stellte daraufhin die ihrer Auffassung nach ermittelten Pflichtverletzungen des Klägers sowie weiterer 88 Personen in einem Zwischenbericht zusammen, die ebenfalls in den Verdacht der Verletzung von Geschäftsgeheimnissen geraten sind. Der Bericht wurde dann am 16.09.2019 dem Geschäftsführer übergeben. Der Kläger wurde kurz darauf zu den Vorwürfen angehört, er nahm hierzu am 20.09.2019Stellung. Nach Anhörung des Betriebsrates wurde der Kläger am 27.09.2019 fristlos gekündigt.

Es kam wie es kommen musste, die Arbeitgeberin verlor den Kündigungsschutzprozess sowohl vor dem Arbeitsgericht als auch dem Landesarbeitsgericht, weil die Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB bei Ausspruch der fristlosen Kündigung nicht eingehalten worden sei.

Sodann kam mit dem Urteil des BAG v. 5.5.22 die Rettung, jedenfalls in diesem Fall. Das BAG stellte klar: Die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB beginnt nach S. 2. mit dem Zeitpunkt, indem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Handelt es sich bei dem Arbeitgeber um eine juristische Person, ist grundsätzlich die Kenntnis des gesetzlich oder satzungsgemäß für die Kündigung zuständigen Organs maßgeblich. Neben den Mitgliedern der Organe von juristischen Personen gehören zu den Kündigungsberechtigten auch die Mitarbeiter, denen der Arbeitgeber das Recht zur außerordentlichen Kündigung übertragen hat. Die Kenntnis anderer Personen ist grundsätzlich unbeachtlich. Dies gilt selbst dann, wenn ihnen Vorgesetzten- oder Aufsichtsfunktionen übertragen worden sind.

Das BAG weiter: Es könne dem Arbeitgeber auch keine unsachgemäße Organisation vorgeworfen werden und damit verfange auch nicht der Einwand, dass der Arbeitgeber sich deshalb wegen Treu und Glauben nicht darauf berufen könne, die Frist gewahrt zu haben. Da selbst grob fahrlässige Unkenntnis des Kündigungssachverhalts die Frist des § 626 Abs. 2 BGB nicht in Gang setze, begründe aber nicht schon jede Unkenntnis aufgrund eines Organisationsverschuldens eine unzulässige Rechtsausübung. Der Kündigungsberechtigte muss in diesen Fällen vielmehr den Informationsfluss zielgerichtet verhindert oder zumindest in einer mit Treu und Glauben nicht zu vereinbarenden Weise ein den Informationsfluss behinderndes sachwidriges und überflüssiges Organisationsrisiko geschaffen haben. Es erfolgt damit keine Wissenszurechnung gemäß § 166 BGB analog, soweit nicht kündigungsberechtigte Mitarbeiter vom Kündigungssachverhalt bereits umfassend Kenntnis hatten.

Fazit:

Die Entscheidung des BAG hilft jedenfalls in den Fällen weiter, in denen ausschließlich die Geschäftsführung zur Kündigung berechtigt ist. Dies ist aber oft so nicht der Fall, da jedenfalls in größeren Einheiten die Leiterinnen der Personalabteilung regelmäßig zu solchen Kündigungen berechtigt sind. Dann wird es bereits auf deren Kenntnis ankommen. Es ist also weiterhin Vorsicht geboten, nicht nur deshalb:

Achtung:

Das BAG stellt in dieser Entscheidung weiter fest, dass die Kenntnis einer nicht kündigungsberechtigten Person tatsächlich schädlich sein kann, soweit diese früher Kenntnis erlangt hat, und eine so herausgehobene Position und Funktion im Betrieb inne hat, dass sie tatsächlich und rechtlich in der Lage ist, den Sachverhalt so umfassend zu klären, dass mit ihrem Bericht an den Kündigungsberechtigten dieser ohne weitere Nachforschungen seine Kündigungsentscheidung abgewogen treffen kann. In diesen Fällen müssen beide Voraussetzungen (ähnlich selbstständige Stellung und treuwidriger Organisationsmangel in Bezug auf die Kenntniserlangung) kumulativ vorliegen und vom Gericht positiv festgestellt werden.

Damit mag die Entscheidung des BAG in Ausnahmefällen helfen. Sich darauf verlassen sollte man sich allerdings nicht.

Autor:

Jürgen W. Gerth
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht

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