Stechuhr-Urteil des Europäischen Gerichtshofs gilt auch in Deutschland
Arbeitgeber in Deutschland sind zur systematischen Arbeitszeiterfassung verpflichtet. Dies ist zwingendes Arbeitsschutzrecht.
Das Bundesarbeitsgericht entschied mit Beschluss vom 13.09.2022 (kein Urteil, wie das häufig in der Presse mitgeteilt wird) – Az. 1 ABR 22/21, dass Arbeitgeber nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz verpflichtet sind, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann.
Der Beschluss des Bundesarbeitsgerichts ist vom Inhalt her nicht überraschend. Überraschend ist aber die Gelegenheit, die das Bundesarbeitsgericht für seine Entscheidung genutzt hat.
Wir haben hierzu bereits mit unserem Mandantenrundschreiben vom 15.05.2019 darauf hingewiesen, dass die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung spätestens mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 14.05.2019 gilt. Das deutsche Arbeitsschutzgesetz ist europarechtlich auszulegen, sodass auch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in Deutschland zu beachten ist.
Eine ähnliche rechtliche Situation besteht u.a. im Urlaubsrecht. Hierzu hatte das Bundesarbeitsgericht mit Urteil vom 07.08.2012 die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 22.11.2011) zum Verfall von Urlaubsansprüchen bei dauerkranken Arbeitnehmern nach 15 Monaten bestätigt.
Insoweit kam die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zur Arbeitszeiterfassung nicht überraschend, auch wenn einige Arbeitsrechtler und Arbeitsgerichte die Auffassung vertreten haben, es bedürfe erst noch einer gesetzlichen Umsetzung in Deutschland. Dies ist, wie das Bundesarbeitsgericht betont, nicht der Fall. Insoweit gilt die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung auch ohne gesetzliche Neuregelung. Nur am Rande sei angemerkt, dass es bis zum heutigen Tag noch keine klaren gesetzlichen Vorgaben zur Arbeitszeiterfassung (abgesehen von bestimmten Ausnahmen) gibt. Das kann aber dahinstehen.
Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gilt auch nicht erst mit der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 13.09.2022, sondern sie galt schon vorher. Das Bundesarbeitsgericht hat lediglich entschieden, dass unser Arbeitsschutzgesetz europarechtlich auszulegen ist, was auch schon vorher der Fall war.
Die Gelegenheit, bei der das Bundesarbeitsgericht die Entscheidung getroffen hat, war aber überraschend. Konkret ging es um die Frage, ob der Betriebsrat die Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung durch sein Mitbestimmungsrecht erzwingen kann. Dies hat das Bundesarbeitsgericht jedoch abgelehnt. Das Initiativrecht des Betriebsrats besteht dort nicht, wo der Arbeitgeber schon von Gesetzes wegen verpflichtet ist. Insoweit hat das Bundesarbeitsgericht also inzident im Rahmen des Rechtsstreits zur gesetzliche Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung entschieden.
Was sind nun die Konsequenzen?
Arbeitgeber müssen eine systematische Arbeitszeiterfassung vornehmen. Dies ist durch ein sogenanntes objektives, verlässliches und zugängliches System umzusetzen. Wer dies unterlässt, verstößt gegen zwingendes Arbeitsschutzrecht und riskiert ein Bußgeld!
Das Urteil hat auch gravierende Auswirkungen auf die betriebliche Praxis, insbesondere bestehende Arbeitszeitmodelle. So ist die nicht selten gelebte „blinde“ Vertrauensarbeitszeit quasi verboten, da Beginn und Ende der Arbeitszeit sowie die jeweiligen Ruhepausen erfasst werden müssen. Auch bestimmte gelebte Formen der Gleitzeit, des Homeoffice oder mobile Office sind auf den Prüfstand zu stellen, da sie gegebenenfalls gegen zwingendes Arbeitsschutzrecht verstoßen.
Ruhepausen müssen ebenfalls strikt erfasst werden.
Für weitere Fragen stehen wir Ihnen selbstverständlich gern zur Verfügung, insbesondere zu der Frage, wie nun mit den Auswirkungen der BAG-Entscheidung im Einzelfall umzugehen ist.
Sehen Sie hierzu Herrn Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Silvio Lindemann im Gespräch mit dem mdr vom 15.09.2022.
Silvio Lindemann
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